Kommunikatorforschung/Lexikon

Die Nachrichtenwerttheorie

Neben der Gatekeeperforschung gehört die Nachrichtenwerttheorie zu den wichtigsten Teilen der Kommunikatorforschung. Hierbei werden nicht wie beim Gatekeeper die individuellen Selektionsentscheidungen des Journalisten betrachtet, sondern die Eigenschaften einer Nachricht, die sogenannten Nachrichtenfaktoren, als maßgebliches Kriterium für die Veröffentlichung angesehen. Die Vorreiter der Nachrichtenwert-Theorie in Europa waren Johan Galtung und Marie Holmboe Ruge. Diese untersuchten Nachrichtenfaktoren, aber keineswegs aus kommunikationswissenschaftlichem oder soziologischem Interesse. Sie waren Friedensforscher und vertraten die Ansicht, dass durch die Nachrichtenauswahl und die daraus resultierende Zeitungsberichterstattung ein verzerrtes Weltbild entsteht und Ungerechtigkeiten sowie soziale Konflikte in der Welt verstärkt würden.

In ihrer Studie „The Structure of Foreign News“ (1965) untersuchten sie daher den internationalen Nachrichtenfluss und leiteten daraus zwölf Eigenschaften eines Ereignisses (Nachrichtenfaktoren) ab, die den Nachrichtenwert einer Meldung, also die Veröffentlichungswahrscheinlichkeit, bestimmen. Diese Nachrichtenfaktoren sind:

  1. Frequency („Frequenz“)  – gemeint ist der zeitliche Verlauf eines Ereignisses. Stimmt dieser mit dem Erscheinungsrhythmus eines Mediums (täglich, wöchentlich, montalich etc.) überein, besteht eine große Veröffentlichungswahrscheinlichkeit.
  2. Threshold („Schwellenwert“): a) absolute intensity: Intensität, Wichtigkeit eines Ereignisses; b) intensity increase: Intensitätszuwachs
  3. Unambiguity („Eindeutigkeit“)
  4. Meaningfulness („Bedeutsamkeit“): a) cultural proximity: Findet ein Ereignis in einem kulturellen Rahmen statt, der unserer eigenen Kultur ähnlich ist, besteht eine größere Veröffentlichungswahrscheinlichkeit; b) relevance: persönliche Betroffenheit, Relevanz für das eigene Leben
  5. Consonance („Konsonanz“) – passt eine Meldung in das Bild der Leser?
  6. Unexpectedness:   a) Unpredictability („Unvorhersehbarkeit“); b) Scarcity („Seltenheit“)
  7. Continuity („Kontinuität“) – besitzt das Ereignis einen gewissen Fortsetzungscharakter, da z.B. bereits über ähnliche Ereignisse berichtet wurde?
  8. Composition („Variation“) – Journalisten streben bei ihrer Auswahl eine gewisse Vielfalt an Themen und Bereichen an

  9. Reference to élite nations („Bezug zu Elitenationen“)
  10. Reference to élite people („Bezug zu Elitepersonen“)
  11. Reference to persons („Personalisierung“) – Meldungen, die an bestimmten Personen festgemacht werden können, sind für das Publikum greifbarer und dadurch interessanter
  12. Reference to something negative („Negativität“) – Menschen haben eine natürliche Neigung, Negativem mehr Beachtung zu schenken

Die ersten acht Faktoren werden dabei als kulturunabhängig betrachtet, die letzten vier als kulturabhängig.

Galtung und Ruge entwickelten zudem fünf verschiedene Hypothesen, die sich auf die Nachrichtenfaktoren beziehen. Die zwei wichtigsten dabei sind die Komplementaritätshypothese und die Additivitätshypothese. Die Komplementaritätshypothese besagt, dass ein nicht vorhandener Nachrichtenfaktor durch einen anderen, stark vorhandenen Faktor ausgeglichen bzw. ersetzt werden kann. Die Additivitätshypothese besagt, dass die Veröffentlichungswahrscheinlichkeit einer Nachricht umso höher ist, je mehr Nachrichtenfaktoren sie erfüllt.

Da Galtung und Ruge ihre Hypothesen in der genannten Studie nur unzureichend in der Praxis überprüfen, wird ihr Katalog von Nachrichtenfaktoren vor allem als theoretische Grundlage zu Rate gezogen. Der Katalog wurde zudem mehrmals überarbeitet und erweitert, sodass teilweise von 18 oder sogar von bis zu 22 Nachrichtenfaktoren die Rede ist. Es wurde außerdem kritisiert, dass Galtung und Ruge nur zwischen Veröffentlichung und Nichtveröffentlichung einer Meldung unterschieden, nicht aber deren Umfang und die Platzierung mit einbezogen.

Eine weitere wichtige Entwicklung der Nachrichtenwert-Theorie lieferte 1998 der Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger (*1943). Er stellte fest, dass die Nachrichtenfaktoren nicht universell gültig, sondern zeit-, kontext- und kulturabhängig sind und sich somit je nach Situation unterscheiden können. Sie können daher nicht als alleiniges Selektionskriterium der Nachrichtenauswahl betrachtet werden. Kepplinger führte daher den Begriff des „Zwei-Komponenten-Modells“ der Nachrichtenauswahl ein. Die zweite Komponente neben den objektiven Eigenschaften eines Ereignisses ist dabei die subjektive Einschätzung der Journalisten über die Wichtigkeit dieser Eigenschaft, der Nachrichtenwert:

„Ein Ereignis ist nicht schon deshalb berichtenswert, weil es eine Eigenschaft aufweist – z.B. in der näheren Umgebung geschehen ist. Eine Meldung ist nicht schon deshalb publikationswürdig, weil sie den entsprechenden Nachrichtenfaktor besitzt – in diesem Fall den Faktor „räumliche Nähe“. Berichtenswert ist das Ereignis und publikationswürdig ist die Meldung nur deshalb, weil Journalisten die Tatsache, daß ein Ereignis in der näheren Umgebung stattgefunden hat, für ein bedeutsames Selektionskriterium halten.“ (Kepplinger 1998)

Kepplinger verbindet in diesem Modell also die Gatekeeperforschung mit der Nachrichtenwerttheorie, da er sowohl objektive Eigenschaften eines Ereignisses als auch die subjektiven Selektionskriterien eines Journalisten mit einbezieht.

Die Frage nach den Selektionskriterien von Journalisten und damit auch von der Objektivität von Nachrichten spielt auch heute noch eine große Rolle unter verschiedenen Gesichtspunkten – z.B. aus Sicht der Kommunikationswissenschaftler, der Medienmacher oder auch wie Galtung und Ruge aus Sicht der Friedensforscher. Daher ist es wichtig, sich auch jetzt noch mit der Nachrichtenwertforschung und den dazugehörigen Fragestellungen auseinanderzusetzen.

 

Bild: Eigene Abbildung nach Kepplinger (1998)

 

Literatur

Galtung, Johan/Ruge, Marie (1965): The Structure of Foreign News. The Presentation of the Congo, Cuba and Cyprus Crisis in Four Foreign Newspapers. In: Journal of Peace Research, 2(1), 64-91.

Kepplinger, Hans Mathias (1998): Der Nachrichtenwert der Nachrichtenfaktoren. In: Holtz-Bacha,Christina/Scherer, Helmut/Waldmann, Norbert (Hrsg.): Wie die Medien die Welt erschaffen und wie die Menschen darin leben. Wiesbaden: Opladen, S.19-38.

Kunczik, Michael/Zipfel, Astrid (2005): Publizistik: Ein Studienhandbuch. 2., durchgesehene und aktualisierte Auflage. Köln: Böhlau (UTB 2256), S.245-266.

 

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